Kein Scheiß: an manchen Tagen in diesem Jahr wäre ich am liebsten aus der Kirche ausgetreten. Weil ich so wütend und so tief beschämt war. Aber ich bin am Ende geblieben. Warum ich austreten wollte, und wieso ich doch geblieben bin? Hier kommt ein absolutes Herzensthema meines Jahres 2022.
Es gab in diesem Jahr eine Zeit, da wäre ich am liebsten aus der Kirche ausgetreten. Ich war so wütend. So tief beschämt. Natürlich hatte ich schon viel gelesen und gehört über Missbrauch in den Kirchen und dass die Aufarbeitung alles andere als gut läuft. Aber als meine Frau dann an ihrem kirchlichen Arbeitsplatz selbst erleben musste, dass es immer noch die Strukturen und Denkmuster gibt, die der Nährboden für Missbrauchsfälle in der katholischen und der evangelischen Kirche waren und sind – ja, da gab es echt reichlich Tage, an denen ich am liebsten aus der Kirche ausgetreten wäre.
Meine Wut, mein Unverständnis und meine Beschämung habe ich versucht zu verarbeiten. Für mich selbst aber auch für all die Menschen, die sich aus ähnlichen Gründen von den Kirchen abwenden. Ganz ehrlich: ich verstehe euch. Aber ich bin trotz dieses schwierigen persönlichen „Kirchen-Jahres“ nicht ausgetreten. Und ich möchte mit diesem Beitrag gerne erklären, wieso nicht.
Was ist eigentlich passiert?
Meine Antwort ist etwas länger und ist letztlich ein Auszug aus meinem Buch „Jesus, Füße runter!„. Das Buch ist eine Mischung aus realen Dingen, die ich erlebt habe und Fiktion – denn: in dem Buch ist Jesus auf die Welt zurückgekommen. Ich glaube, dass diese Mischung für mich eine gute Art war, meine Gefühle rund um das Thema Kirche & Missbrauch zu verarbeiten. Aber ganz wichtig: natürlich ist es von mir ausgedacht, dass Jesus auf die Welt zurückgekommen ist. Die Geschichte dahinter, meine Gefühle und das, was meine Frau an ihrem kirchlichen Arbeitsplatz erleben musste – sind aber zu 100% wahr.
Damit du den folgenden Buchauszug verstehen kannst, kommt hier eine kurze Erklärung: In „Jesus, Füße runter!“ ist Jesus auf die Welt zurückgekommen und macht mit meiner Frau, Trixi, und mir eine Interrail-Tour durch Europa. Wir kommen auch nach Rom und dort beginnt dann ein Gespräch über die Kirchen und über die Zeiten, in denen ich am liebsten aus der Kirche ausgetreten wäre. Und warum ich es am Ende aber doch nicht bin.
Eine etwas längere Antwort
Ich warne dich vor: du hast jetzt echt was zu lesen! Ob es davon keine Kurzfassung gibt? Nein, für mich nicht. Ich „brauche“ diesen kleinen (dramaturgischen) Bogen, den ich gleich (hoffentlich) mit dir gehe. Und ich hoffe, dass du dieses kleine Stück mit mir gemeinsam (lesend) nach Rom verreist. Denn für mich ist Missbrauch in Kirchen und der Umgang der Kirchen damit echt eines DER Themen meines Jahres. Entsprechend ein absolutes Herzensthema.
Ich freue mich auch hinterher über deine Kommentare. Anmerkungen. Übers Teilen und Weiterleiten. Jetzt ist aber erstmal Zeit zum Lesen:
#metoo
»Ich schäme mich für diese Kirche«, sage ich und ziehe mir die Kapuze meines Regencapes über. Es regnet. Na ja, es gewittert eigentlich eher. Vor ein paar Minuten habe ich noch überlegt, ob ich nicht lieber die Sonnencreme rausholen sollte. Komisches Wetter heute.
Wir stehen bestimmt schon eine Stunde auf dem Petersplatz in Rom an einer ziemlich langen Schlange an. Das Ziel: der Petersdom natürlich! Aber wirklich vorangekommen sind wir bislang noch nicht. Dafür hat sich ein ernstes Gespräch über die Kirche ergeben.
»Und wieso schämst du dich für die Kirche?«, fragt mich Jesus zurück. Auch er hat ein Regencape übergezogen. Die gab es hier um die Ecke von einem Straßenverkäufer und ohne die wären wir drei wohl schon ordentlich durchnässt. In unserem Reisegepäck war einfach kein Regen vorgesehen.
Ich schaue Jesus an. Dann zum eindrucksvollen Petersdom, der sich hinter ihm regelrecht auftürmt. Und dann zu Trixi. Ich sehe ihr die Traurigkeit und die Verletzung bis heute an. »Du weißt doch genau, was ich meine«, antworte ich Jesus ausweichend.
»Das stimmt. Aber es ist trotzdem etwas anderes, wenn du es mir erzählst.«
Ich nicke. Ja, es ist manchmal etwas komisch mit Jesus. Einerseits weiß er eigentlich immer schon Bescheid, andererseits tut es unendlich gut, mit ihm über das zu sprechen, was mich beschäftigt. Nicht, weil er immer den perfekten Rat oder die bislang unentdeckte Lösung hat. Aber es fühlt sich immer wieder so an, als würde beim Erzählen etwas von mir auf ihn übergehen. Oder umgekehrt.
Trotzdem fällt es mir schwer, darüber zu reden. Weil es keine gute Laune macht. Weil es für Trixi und mich etwas ist, was uns sehr beschäftigt hat, und weil wir im Urlaub eigentlich abschalten und gerade nicht darüber nachdenken wollten. Aber als wir dann hier so im Regen vor dem Petersdom standen und Jesus uns fragte, was wir eigentlich über die Kirche denken – da kamen die Wut und das Unverständnis zurück.
»Es ist ein tief beschämendes Gefühl, Teil einer Kirche zu sein, in der es so viele Fälle von Missbrauch gibt«, antworte ich leise und schaue vorsichtig zu Trixi rüber. Natürlich haben auch wir viel gelesen und gehört über Missbrauch in der Kirche. Und darüber, dass die Aufarbeitung alles andere als gut läuft. Trotzdem war das Thema für uns auf eine Art sehr weit weg. Bis Trixi dann an einem früheren Arbeitsplatz über ein Jahr lang selbst sexuelle Belästigung erleben musste. Was schon an sich schlimm genug ist. Aber eigentlich war das Schlimmste daran, wie die Kirchengemeinde als Arbeitgeberin damit umgegangen ist. Es wurde bagatellisiert. Nicht ernst genommen. Klein geredet. Der langjährige Kollege in Schutz genommen. Das Problem für die Kirchengemeinde? Das war faktisch Trixi. Und es ging vor allem um eines: den Ruf der Gemeinde wahren.
Natürlich ist das ein subjektives Beispiel. Und es geht nicht um Missbrauch. Aber nach allem, was wir so mitbekommen haben: Es ist kein Einzelfall. Und aus unserer Sicht viel schlimmer: Auch heute gibt es immer noch die Strukturen und Denkmuster, die der Nährboden für Missbrauchsfälle in der katholischen und der evangelischen Kirche waren – und ja: auch immer noch sind.
»Es hat mich erschüttert, wie sehr ich kämpfen musste, um ernst genommen zu werden«, sagt Trixi mit belegter Stimme. »Es hat so viel Kraft gekostet. Und ich konnte einfach irgendwann nicht mehr.«
»Ich weiß«, antwortet Jesus mitfühlend.
»Wir hätten dich in dieser Zeit besonders gebraucht«, sage ich zu ihm mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.
»Ich war bei euch. Anders. Aber ich war bei euch. Ich sage nur: Gottes Energie und so.«
Ich nicke. Ja, ich weiß das. Und ich glaube, Trixi wurde in dieser Zeit wirklich von Gott gestärkt und getragen. Auch wenn es sich nicht immer so angefühlt hat. Trotzdem hätten wir uns manchmal Jesus so richtig an unserer Seite gewünscht. Der einfach mal auf den Putz haut … Jesus unterbricht meine Gedanken: »Ich glaube, für den Krawall wäre Martin besser geeignet gewesen!« Trixi lächelt und weint zugleich. Ganz langsam läuft eine einzelne große Träne ihre Wange hinab. Ich schaue zu Jesus, der sichtlich betroffen ist.
Aber dann sagt Trixi: »So, jetzt ist aber auch gut mit den schweren Gedanken. Lasst uns über was anderes sprechen, sonst kommt das alles bei mir wieder hoch. In Ordnung?« Jesus und ich nicken.
Trixi und ich haben wahrlich genug über dieses Thema gesprochen. Auch wenn uns dabei vor allem klar wurde, dass genau das noch immer und zu häufig fehlt: das offene und direkte An- und Aussprechen von jeder Form an Grenzüberschreitungen auch und vor allem in der Kirche.
Trixi geht ein paar Schritte aus der Schlange heraus, dreht sich dann zu uns um und sagt: »Ganz ehrlich, ihr beiden: Ich glaube nicht, dass wir hier heute noch in den Petersdom reinkommen. Wollen wir die Aktion abblasen und stattdessen ein wenig durch die Stadt schlendern?« Jesus und ich stimmen zu und wir drei beschließen, einfach loszulaufen.
Dank Digital Detoxing sind wir in den Städten jetzt meistens recht spontan unterwegs. Oft stehen dann doch irgendwo Schilder oder so herum, wo wir uns ein wenig orientieren können. Wir kommen aber gar nicht weit, gerade einmal bis zum Ufer des Tibers. Da dreht sich Trixi zu Jesus und mir um und fragt: »Darf ich mir von euch etwas wünschen?«
»Ähm«, sagt Jesus unsicher.
»Das brauchen wir jetzt, um die Stimmung nach dem schwierigen Thema zu heben!«, argumentiert Trixi. Okay, dagegen können wir ja kaum etwas sagen.
Wenige Minuten später sitzen wir drei mit sexy Helmen auf geliehenen Mopeds. Hatte ich schon erwähnt, dass ich echt kein Moped-Fahrer bin? Die Dinger sind mir einfach nicht geheuer. Und wenn ich mir Jesus so anschaue, dem geht das sehr ähnlich.
»Sag mal Jesus, bist du noch nie Moped gefahren?«, rufe ich ihm zu, während er noch auf dem Gehweg fahrend in Mopsgeschwindigkeit dazu ansetzt, eine ältere Dame mit Rollator zu überholen.
»Du musst hier auf die Straße kommen!«, ruft Trixi. »Runter vom Fußweg!«
»Oh Gott, ist das schnell! Reicht das nicht schon zur Stimmungshebung? «, schreit Jesus, während er mit dem Moped weiterhin den Gehweg unsicher macht.
»Nein!«, ruft Trixi lachend zurück. »Wir haben für 30 Minuten gezahlt und davon sind noch ungefähr 29 übrig!«
Jesus sieht alles andere als glücklich aus. Echt ärgerlich, dass wir keine Kamera mehr dabeihaben. Mit Jesus auf dem Moped durch Rom düsen, das hätte ich schon gerne fotografiert. Und danach in maximaler Größe ausgedruckt. Na ja, düsen. Also noch wäre gehen ungefähr genauso schnell.
Jesus versucht es ein zweites Mal mit der vorzeitigen Erlösung: »Kommt schon! Ihr hattet euren Spaß!«
»Tut uns leid, Jesus«, rufe ich lachend. »Aber wir befolgen nur, was in der Bibel steht!«
»Da steht niemals, dass ich mit einem Moped durch Rom fahren soll!«
»Bist du dir sicher? Wir glauben das erst, wenn du uns alle Bibelstellen nennst, in denen es nicht steht!«
»Was?!«
»Woohoo«, schreit Trixi und gibt ordentlich Gas.
»Komm schon, Jesus! Trau dich!«, versuche ich den Sohn Gottes zu ermuntern. »Das ist fast wie damals in Jerusalem, als du auf einem kleinen Esel eingeritten bist. Weißt du noch? Das hier ist genauso – nur besser. Denn auf dich wartet keine Kreuzigung. Versprochen!«
»Sehr witzig. Außerdem steht hier niemand wie damals am Straßenrand und jubelt mir als neuem Messias zu«, wendet unser wackeliger Mopedfahrer ein. Recht hat er. Wäre er der Papst, sähe das sicherlich ganz anders aus. Da fällt mir ein: Wäre Jesus als Papst eigentlich wählbar?
»Also Papst wäre nun wirklich kein Job für mich!«, brüllt Jesus zu mir rüber. »Und noch mal zu dem Esel in Jerusalem: Ich habe das nur gemacht, weil das so von meinem Vater geplant war. Mir war dieses Esel-Reiten überhaupt nicht geheuer! Und dann noch auf einem Fohlen! Ich hatte die ganze Zeit Sorge, dass entweder das arme Tier unter meinem Gewicht zusammenbricht oder ich hinterher eine Anzeige von der judäischen Tierschutzfront bekomme. Oder von der Tierschutzfront von Judäa. Ich habe das nie so ganz verstanden, warum es den Laden gleich doppelt gab!«
Jesus gibt vorsichtig Gas und fährt zu mir auf die Straße. »Na, geht doch!«, stelle ich erfreut fest und wir überqueren langsam nebeneinander fahrend auf einer Brücke den Tiber.
»Sag mal, Jesus«, rufe ich ihm zu, »damals, als du auf einem kleinen Esel in Jerusalem eingeritten bist, das hast du also nur gemacht, damit die Prophezeiung über dich erfüllt wurde?
»Wie meinst du?«
»Na ja, in alten Schriften stand doch, dass man unter anderem an dieser Esel-Jerusalem-Sache den Messias, den neuen König der Juden, erkennen würde. Also hast du das absichtlich gemacht, um diese Prophezeiung zu erfüllen?«
»Ich bin ein Messias, holt mich hier runter!«, ruft Jesus halb scherzend, halb ernst – und gibt zu meiner Überraschung dann aber ordentlich Gas. Es scheint, als würde er langsam an der Sache Gefallen finden.
Als ich ihn wieder eingeholt habe, dreht er sich zu mir um und antwortet lachend: »Ich muss sagen: Im Vergleich zum Esel beschleunigt ein Moped deutlich besser! Und zu deiner Frage: Ja und nein! Also, es gab ja etliche Prophezeiungen über mich. Von manchen wusste ich, von anderen nicht. So ähnlich wie mit meiner Kreuzigung am Ende: Ich wusste, dass ich da durch muss. Aber wie genau das dann abläuft und passiert: keine Ahnung! Bei vielen dieser Prophezeiungen habe ich auch erst währenddessen oder hinterher gemerkt, dass das schon wieder eine war.«
Ich nicke und möchte gerade noch weiter fragen, da haben wir Trixi wieder erreicht. Sie grinst über ihr ganzes Gesicht und ihre Haare flattern im Fahrtwind. »Na, ihr lahmen Esel? Auch endlich da?« Jesus hupt zur Bestätigung und ich rufe fragend zurück: »Ab zum Kolosseum?« Trixi nickt, Jesus antwortet mit einem lauten: »Woooohooo!« und dann – verfahren wir uns.
Na ja, Spaß macht die ganze Sache trotzdem und wir kommen auf etlichen Umwegen am Ende dennoch am Kolosseum an. Gerade rechtzeitig vor dem nächsten Gewitterschauer. Erstaunlicherweise erwartet uns hier keine lange Schlange. Gut, gefühlt standen alle Touristen ja aber auch schon beim Papst vor der Tür. Während sich draußen das Gewitter abreagiert, erkunden wir den begehbaren Teil der Katakomben. Schon nach wenigen Minuten bleibt Jesus stehen. Sein Blick ist auf ein kleines Kreuz oben unter der Decke gerichtet. Ein christliches Kreuz. Also: mit einem Jesus dran. Es ist wirklich klein, regelrecht versteckt und so verschmutzt, dass die meisten Menschen es sicherlich übersehen. Trixi und ich stellen uns links und rechts neben Jesus und schauen schweigend mit nach oben zum Kreuz.
»Was denkst du?«, frage ich Jesus. »Ich habe erst kurz an meine Kreuzigung damals gedacht. Und dass ich nicht erwartet hätte, dass ausgerechnet das Kreuz zum Symbol der Kirche wird. Ich muss gestehen: Manche Leute mögen sich ja nicht so gerne auf Fotos sehen. Ich persönlich mag mich auch echt nicht so gerne an Kreuzen hängend sehen. Und dann immer noch so leidend!«
»Wäre dir ein anderes Symbol lieber gewesen?«, fragt Trixi.
Jesus zuckt mit den Schultern und antwortet: »Ich habe darüber schon häufiger nachgedacht. Mir ist aber auch kein perfektes anderes Symbol eingefallen.«
»Du auf einem kleinen Esel?«, schlage ich vor. »Oder dann jetzt als Update: auf einem Moped?«
Jesus ignoriert meine Vorschläge und denkt laut: »Überlegt euch mal, was alles in der Welt passiert ist, seitdem hier jemand das Kreuz aufgehängt hat.«
Trixi und ich nicken. Keine Ahnung, seit wann das Kreuz hier hängt. Vermutlich nicht seit dem Bau des Kolosseums. Aber so versteckt, wie das da oben ist: Wer weiß? »Ich find’s echt krass, dass das Kreuz hier ja bestimmt auch Christen aufgehängt haben«, sage ich. »Ich meine damit: Ist es nicht der Hammer, wie lange es eigentlich schon die Kirche gibt? Seit fast 2000 Jahren hängen Christen Kreuze irgendwohin und denken an dich, Jesus!«
»Tja«, wendet Trixi ein und seufzt dabei schwer. »Aber zumindest in Deutschland werden es sehr beständig immer weniger Menschen, die an dich denken, Jesus. Und ein Kreuz aufhängen würden wohl noch viel weniger.«
Jesus lehnt sich an die dem Kreuz gegenüberliegende Wand. Dann rutscht er langsam hinunter, bis er auf dem Boden sitzt.
»Ehrlich, ich sage euch: Macht euch nicht immer so viele Gedanken um euren Mitgliederschwund in den Kirchen«, sagt er dann aufmunternd. »Ihr wisst schon, dass auch ich das kenne? Ja, es gab sogar eine Zeit, wo sich echt viele Leute von mir abgewendet haben. Ich weiß noch, wie ich richtig frustriert war und dann meine zwölf Jünger gefragt habe, ob sie auch gehen wollen.«
Ich setze mich rechts neben Jesus, lege mein Regencape vor uns auf den Boden und wir beide blicken hoch zum Kreuz.
»Aber das war bei dir anders«, sage ich zu Jesus.
»Wieso?«
»Die Leute haben sich damals von dir abgewendet, weil du zu radikal warst. Heute gehen die Leute, weil Kirche für sie belanglos und uninteressant ist.«
»Oder weil sie selbst oder andere Menschen in der Kirche scheiße behandelt wurden«, ergänzt Trixi leise und setzt sich links neben Jesus. Einige Touristen gehen vorbei und nicken uns freundlich zu.
»Ich glaube, das Hauptproblem ist«, beginne ich laut zu denken, »dass wir in der Kirche heute nur noch selten eine klare Botschaft haben. Ich meine damit: Wer keine eigene Botschaft hat, der kann damit weder anecken noch werben.«
Jesus nickt bedächtig. Jemand geht an uns vorbei und wirft ein paar Münzen in mein Regencape. »Ähm«, sage ich. »So können wir unsere Urlaubskasse natürlich auch aufbessern «, schmunzelt Jesus. Ich schaue zu Jesus neben mir und dann zu dem kleinen Jesus oben am Kreuz. Wir haben erst vor ein paar Tagen über ein ähnliches Thema gesprochen. Die Frage beschäftigt Trixi und mich immer wieder: Was ist eigentlich unsere Botschaft? Jesus hat ungefähr gesagt: »Die gute Nachricht ist, dass es einen Gott gibt. Und dieser Gott ist in mir Mensch – und damit für euch: verständlicher – geworden. Ja, und dieser Gott in Mensch – also ich – ist dann für alle Menschen gestorben und auferstanden. Und das heißt letztlich: Die gute Nachricht lautet, dass es nicht nur einen Gott gibt, sondern dass der sogar in verständlicher Form vorliegt und dass man keine Angst vor diesem Gott und keine Angst vor dem Tod haben muss.«
Jesus unterbricht meinen kleinen gedanklichen Rückblick und stupst mich an. »He Jonas, sag uns beiden, worüber du nachdenkst.«
Ich hole einmal tief Luft und sage dann: »Ich glaube, ich denke gerade darüber nach, dass nicht nur die Botschaft das Problem ist. Sondern auch der Weg, wie die Botschaft dann kommuniziert wird. Du hast das vor rund 2000 Jahren mal mit Wein und Schläuchen verglichen. Und ich finde das ziemlich passend. Ich meine: Wein braucht etwas, worin er transportiert und gelagert wird. Das waren früher Schläuche aus Leder. Und irgendwann wurden die Schläuche aber auch alt und brüchig und man musste für neuen Wein dann auch neue Schläuche nutzen. Wenn ich mir heute Kirche anschaue, dann denke ich manchmal, dass wir einfach nicht einsehen wollen, dass Schläuche mit der Zeit alt und brüchig werden und es völlig normal ist, dass man in neue Schläuche investieren muss.«
»Ziemlich viele Schläuche in deinen Sätzen«, stellt Trixi trocken fest. »Das schlaucht ganz schön beim Zuhören.«
»Sehr witzig«, antworte ich. »Du verstehst doch aber, was ich meine, oder?«
»Klar!«, sagt Trixi.
Jesus zeigt mit dem Finger nach oben zum Kreuz und spricht dabei leise, aber bestimmt: »Schaut euch das kleine Kreuz dort oben an. Keine Ahnung, wann es aufgehängt wurde. Aber wisst ihr was? Es gab schon damals eine Kirche. Und auch wenn ich echt nicht besonders fit in Kirchengeschichte bin: Es gab Höhen und Tiefen in den letzten 2000 Jahren der Kirche. Mein lieber Bibelkreis!«
»Ja und?«, frage ich nach. Ich verstehe noch nicht so ganz, worauf Jesus hinauswill.
»Na, für die Kirche gilt auf eine Art: Sie kommt und geht. Am Ende ist sie nur wie ein Schlauch. Und entscheidend ist der Wein.«
»Und du bist der Wein?«, fragt Trixi.
»Hmm, vermutlich bekomme ich Ärger von meinem Vater, wenn ich das schon wieder sage. Das gab ja ein gehöriges Durcheinander, als ich damals beim letzten Abendmahl mit meinen Jüngern mich mit Brot und Wein verglichen habe. Seitdem bin ich deutlich vorsichtiger mit Vergleichen geworden. Aber unabhängig davon lautet die diplomatisch korrekte Antwort wohl: Ich bin ein elementarer Bestandteil des Weins.«
Ich setze gerade zu einer weiteren Nachfrage an, da kommt ein Sicherheitsmann auf uns zu. Ich verstehe kein Wort, aber er sieht beim Sprechen sehr unfreundlich aus.
»Was sagt er?«, fragt Trixi Jesus.
»Dass hier betteln verboten ist«, antwortet Jesus. »Und dass wir aufstehen und weitergehen müssen.«
Der freundlichen Aufforderung kommen wir natürlich gern nach. Auch wenn es sehr schade ist, dass unsere Urlaubskasse nicht weiter aufgebessert wird. Der Ertrag: 67 Cent. Da müsste Jesus jetzt also mal eine wundersame Cent-Vermehrung starten, damit sich das für uns wirklich lohnt.
»Vergiss es!«, ruft mir Jesus aus ein paar Metern Entfernung zu. Interessant, denke ich mir, ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie weit Jesus eigentlich Gedanken mitlesen kann. Ein paar Meter scheint er locker überbrücken zu können. Sichtkontakt ist auch nicht nötig. Ich werde das weiter beobachten!
Nach etwa einer Stunde sind wir aus dem Kolosseum wieder raus. Es ist später Nachmittag und der Hunger meldet sich zu Wort. Da wir nicht googlen können, welches Restaurant günstig oder empfehlenswert ist, verfahren wir inzwischen nach dem Modus: Jeder darf reihum das nächste Restaurant bestimmen. Wenn es allen dreien gefällt, darf die gleiche Person auch das nächste Mal auswählen. Ist es schlecht bzw. gefällt es höchstens zweien, dann ist der nächste an der Reihe. Heute ist Jesus dran und er wählt ein Restaurant mit offenem Sitzbereich zu einem etwas größeren Platz hin. Keine Ahnung, wie der heißt, aber er sieht schön aus.
Wir bestellen dreimal Pizza (ja, wir sind Gourmets) und drei Coke Zeros (ja, wir achten natürlich auf eine gesunde Ernährung!) und gerade als wir die Bestellung aufgegeben haben, spricht uns ein verwahrloster Mann von der Straße aus an. Trixi und ich verstehen ihn nicht – aber natürlich Jesus. Und was hören wir? Jesus lädt den wildfremden Menschen an unseren Tisch ein.
»Ähm, was wird das?«, frage ich skeptisch.
»Er hat uns um Geld gebeten«, antwortet Jesus. »Aber ich habe ihn dann gefragt, ob er nicht lieber bei uns sitzen und mit uns essen möchte.«
»Aha«, sage ich nicht weniger skeptisch. Der fremde Mann setzt sich zu uns und nickt Trixi und mir unsicher zu. Er riecht leider sehr und ich glaube, man sieht mir das an. Zumindest bekomme ich von Trixi ein »Reiß dich zusammen, Jonas!« entgegengeflüstert.
Keine Ahnung, wie alt der Mann ist. Bestimmt jünger, als er aussieht. Vielleicht 50? Seine Stoffhose ist verdreckt, mehrfach aufgerissen und ihm viel zu groß. Der Gürtel halb geöffnet, die Schuhe völlig zerschlissen. Ich erkenne auf seinen Unterarmen etliche Tattoos. Und auf seinem ursprünglich wohl mal strahlend weißen T-Shirt steht in großen Buchstaben: »California Dreaming«.
»Was möchtest du essen oder trinken?«, fragt Jesus den fremden Mann. Wenn ich es richtig verstehe, dann bittet er um ein Glas Wasser. Aber als der Kellner kommt, da bestellt Jesus doch tatsächlich »ein Glas vom besten Wein des Hauses«.
»Ich bezahle auch!«, sagt Jesus in meine Richtung. Dann stutzt er und schaut mich noch einmal genauer an. »Sag mal, Jonas, kann es sein, dass du richtig Sonnenbrand bekommen hast? Das sieht aus, als würdest du morgen auch als rote Ampel arbeiten können.« Ich fasse mir erschrocken ins Gesicht. Ja, es fühlt sich gereizt an. Na klasse! Das ist aber auch nicht fair. Trixi hat da einfach andere Gene als ich und bekommt fast nie Sonnenbrand. Jesus kann – kleiner himmlischer Vorteil auch hier auf Erden – einfach keine Hautverbrennungen durch übermäßigen Sonnenkonsum bekommen. Ja, und dann komme ich, der Häuptling unter den Bleichgesichtern.
Zum Glück lenkt mich kurz darauf das Essen ab. Jesus gibt die Hälfte seiner Pizza dem fremden Mann. Und dann kommt der beste Wein des Hauses. Der Mann möchte ihn offensichtlich mit uns teilen, aber wir drei lehnen dankend ab und sehen ihm beim Genießen zu.
»Sag mal, Jesus, hättest du mit dem Geld, was dieses Glas Wein kostet, dem Mann nicht sinnvoller helfen können?«, frage ich.
»Du meinst, dass das Verschwendung ist, was ich gerade tue?«
Ich nicke vorsichtig.
»Vielleicht!«, antwortet Jesus. »Aber weißt du, was er von uns hier bekommt, das ist ein kleiner kostbarer Moment der Wertschätzung. Und ich bin mir sicher: Er bettelt den ganzen Tag und wird immer mal wieder Geld erhalten. Aber ehrlich, ich sage euch: An dieses eine Glas Wein wird er sich erinnern. Sein Leben lang.«
Ich nicke und während Trixi, Jesus und der Mann sich angeregt unterhalten, lehne ich mich zurück und verfalle in Gedanken. Manchmal habe ich diesen kuriosen Zustand – dann sehe ich alles um mich herum, aber es ist, als hätte ich für eine kurze Zeit die »Stummschalten«-Taste gedrückt. Ich sehe, wie Trixi mit Händen und Füßen redet, Jesus herzhaft lacht und der fremde Mann aufmerksam beobachtet. Ja, ich bin mir sehr sicher: Ich habe da gerade den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht gesehen.
Es ist halt, wie es ist: Jesus macht einfach einen Unterschied. Oder macht er gerade keinen Unterschied?
Na ja, was ich damit eigentlich meine: Ich glaube, er hat vollkommen recht. Der fremde Mann wird sich vermutlich wirklich für immer an dieses eine Glas Wein erinnern. Und es war alles, nur keine Verschwendung. Wenn ich Jesus jetzt gerade so sehe, dann verstehe ich auch noch besser, was er mit den Schläuchen, der Kirche und dem Wein meint.
Für den fremden Mann ist das Weinglas, das er gerade in den Händen hält, völlig egal. Er wird sich nicht an die Form des Glases erinnern. Aber an den Geschmack des Weins. Und an den Menschen, der es ihm ausgegeben hat. Vermutlich ist die Kirche am Ende genau das: das Glas. Und der Wein ist die Botschaft. Und ja: Es braucht das Glas, damit der Wein vom fremden Mann getrunken werden kann. So braucht es auch die Kirche, damit Menschen von Jesus »kosten« können. Aber wenn sich Menschen hinterher an das Glas und nicht an den Wein erinnern – dann war es mit Sicherheit nicht der beste Wein des Hauses. Dann wurde den Menschen etwas serviert, was nicht Jesus war.
Vielleicht ist das für die Kirche auch immer wieder eine Herausforderung. Einerseits: nicht irgendeinen Wein, sondern den besten Wein für unsere Gäste bestellen. Und ja: ganz besonders für die, die etwas müffeln, die wir nicht kennen und denen wir am liebsten noch nicht mal ein Glas mit irgendwas in die Hand gedrückt hätten. Und andererseits: Das Glas nicht über den Wein stellen. Denn es geht am Ende nicht um die Kirche. Sondern um diesen Typen, der mir gerade gegenübersitzt. Der auch nach 2000 Jahren nicht müde wird, davon zu reden und zu zeigen, dass er Gott in Menschenform ist.
Und das ist übrigens auch der einzige Grund, der Trixi und mich in dieser Kirche hält. Diese Kirche, die wir wirklich immer wieder beschämend finden. Und ich meine damit jetzt keine grausam gelayouteten Gemeindebriefe oder Webseiten, die schon in den 1990ern hart unsexy gewesen wären. Nein, ich meine die wirklich uns massiv beschämenden Dinge. Wie Missbrauchsfälle. Die Vertuschung von Missbrauchsfällen. Und die auf uns hart hereingeprasselte Realität, dass es noch immer Strukturen in der katholischen und der evangelischen Kirche gibt, die beides begünstigen.
Es gab Tage, da wäre ich am liebsten aus der Kirche ausgetreten. Weil ich zusehen musste, wie einzelne Menschen in und aus der Kirche Trixi regelrecht kaputt gemacht haben. Und bis zuletzt kein Verständnis gezeigt haben. Aber ich bin nicht ausgetreten. Und ich werde es auch nicht tun. Aber nicht, weil die Kirche so toll oder so wichtig ist. Nicht, weil ich das Glas so gut finde. Sondern den Wein, der darin serviert werden kann.
Ich merke, dass ich die letzten Minuten meine Augen geschlossen habe. Als ich sie wieder öffne, sehe ich als Allererstes den fremden Mann so unglaublich herzlich lachen. Und in diesem Moment schießen mir vor Rührung die Tränen in die Augen. Denn darum geht es wohl am Ende: Der beste Wein des Hauses verändert Menschen. Die Begegnung mit Jesus verändert Menschen.
Und genau deshalb bleiben Trixi und ich dem Glas treu. Nicht, um das Glas zu verteidigen. Nicht, weil das Glas nicht ersetzbar wäre. Sondern weil wir einfach Gläser brauchen, um möglichst vielen Menschen den besten und lebensverändernden Wein des Hauses zu servieren.
Jonas Goebel
„Jesus, Füße runter!“
Verlag Herder
176 Seiten
ISBN: 978-3451393242
Ich bin sehr froh, dass Du nicht ausgetreten bist :>). Und ich finde Deine Begründung ausgezeichnet.
Möge das Glas trotzdem noch eine Weile halten und der Wein darin nicht noch mehr verwässert werden!
Danke! Und ja: wenn das Glas nicht mehr hält… müssen wir eben rechtzeitig in neue investiert haben 😉
Jesus macht Wasser zu Wein, aber nicht andauernd. Also warten wir und laufen nicht einfach weg. Missbrauch, Feigheit und Wegschauen gibt’s nicht nur in der Kirche, sondern überall. Kennst Du das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern? Die Kirche hängt an diesen schönen Kleidern, sei das Kind, dass sagt, was es sieht und nicht das, was ihm empfohlen wird zu sehen.
Ja, das gibt es leider an vielen Orten. Aber ich finde es besonders erschütternd, dass es ausgerechnet in Kirche eben auch ist 🙁
Aber es gibt eine, wenn auch noch schüchterne Hoffnung, weil sich nicht mehr alle, ob in der Kirche oder draußen – nicht mehr so verhalten. Vergiss nicht, auch Kircheninterne sind Menschen und handeln so wie alle. Ich habe auch schon mal gedacht, eigentlich solltest Du…. und habs dann doch gelassen…