Es ist schon eine Weile her. Ich saß in der S-Bahn und fuhr nach hause. Neben mir ein Mann. Glatze. Kantiges Gesicht. Ein großes Holzkreuz auf dem Schoß und eine dicke Bibel in der Hand. Mein einziger Gedanke? Gott, lass diesen Mann jetzt einfach still sitzen bleiben bis ich ausgestiegen bin. Meine Sorge? Ein peinlicher Moment für mich. Erst später viel mir auf, dass meine Gedanken das eigentlich Peinliche an der ganzen Situation waren. #weichgespült #unddasalspastor #früherwarallesbesser #oderauchnicht
Wer aus Hamburg kommt, der kennt vermutlich diesen Mann. Er steht gerne in der belebtesten Einkaufsstraße Hamburgs. Wobei stehen eine Untertreibung ist. Er geht durch die Gegend und spricht laut (man könnte manchmal auch durchaus „brüllen“ sagen) über Gott, die Bibel und dass es Zeit ist an diesen Gott zu glauben.
Ich habe noch niemanden getroffen, der positiv über diesen Mann spricht. Meine eher nicht zur Kirche gehenden Freunde finden ihn komisch. Die eher zur Kirche gehenden Freunde meistens peinlich. Manche finden ihn auch richtig schlimm. Und ich kann das durchaus verstehen.
Er wirkt nicht gerade sympathisch. Eher einschüchternd. Seine Wortwahl scheint drastisch. Es fallen Worte wie „Umkehr“ oder „Endgericht“. Ich habe ihm noch nie lange zugehört, deswegen weiß ich gar nicht, ob er richtig Predigten hält oder stundenlang das gleiche ruft. Ich weiß auch nicht, ob er nicht auch zwischendurch „schöne“ Sachen sagt. Bei mir ist der Eindruck hängen geblieben, dass er eher droht, als einzuladen.
Vor allem ist bei mir hängen geblieben, dass irgendwie niemand gut über ihn spricht.
Eine peinliche Begegnung
Und dann sitze ich eines Tages neben diesem Typen in der S-Bahn. Es ist feierabendverkehrvoll. Ich bin froh einen Sitzplatz zu haben. Aber doch nicht neben ihm! Ich werde sofort nervös. Meine Güte wäre das peinlich, wenn er jetzt anfängt hier laut zu predigen. Den Leuten was von Gott erzählt.
Ohne Scheiß: ich habe angefangen zu beten, dass Gott ihn bitte ruhig sitzen lassen möge. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich den Kopf schütteln. Meinetwegen.
De facto blieb er ruhig sitzen (yeah, Gebetserhörung…). Aber er schlug die Bibel auf und las leise vor sich hin. Und so saßen wir da. Er die Bibel lesend. Ich „gegen“ ihn anbetend.
Mir geht diese Szene nicht mehr aus dem Kopf. Weil ich denke, dass wir eigentlich das gleiche Ziel haben. Wir wollen beide das Gleiche. Wir scheinen beide von der „Frohen Botschaft“ überzeugt zu sein. Wir haben sie anscheinend für uns als richtig, wichtig, irgendwie so lohnenswert empfunden, dass wir anderen davon erzählen möchten.
Und doch… bete ich gegen ihn an?
Eine weichgespülte Kirche
Ich werde hier nicht werten, ob ich oder der Mann etwas richtiger oder schlechter machen. Ja, meine Sorge ist, dass der Mann mehr „kaputt“ macht, als dass er wirklich Menschen einlädt. Aber was ist, wenn diese Sorge nur daher kommt, dass ich ordentlich „weichgespült“ bin?
Keine Sorge, ich will kein „Hardliner“ werden. Ich werde mich in diesem Leben auch nicht auf die Straße stellen und laut aus der Bibel vorlesen. Aber ich werde die Sorge nicht los, dass wir als Kirche (und ich als Teil dieser Kirche) über die Jahrhunderte, gerade vielleicht das letzte, uns selber weichgespült haben.
Weg mit den Kanten. Das Eckige soll zum Runden werden. Lasst uns als Kirche bloß nicht irgendwo anstoßen. Stellung beziehen wir nur, wenn es absolut sicher ist und wir mit dem Mainstream schwimmen können.
Es ist keine Kante, wenn wir für Flüchtlinge eintreten. Es ist nicht eckig, wenn wir gegen Krieg sind. Das ist Mainstream und fällt kaum noch jemandem auf.
Paulus, der Mann, und ich
Jedes Mal, wenn ich diesen Mann in Hamburg sehe, dann denke ich an Paulus. Den ersten großen christlichen Missionar. Und an die Jünger von Jesus. Und frage mich, wer von uns beiden Paulus und den Jüngern ähnlicher ist.
Und ich frage mich, ob es nun eher gut oder schlecht ist, wenn man den Jungs von damals heute (noch) ähnlich ist.
Gestern sah und hörte ich den Mann wieder laut sprechen. Vor dem Hauptbahnhof. Ich hörte, wie er davon erzählte, dass er sich vor 20 Jahren bekehrt hat. Dass er jeden Tag nach der Arbeit – vom Bau – noch seiner zweiten Leidenschaft nachgeht. Von Jesus erzählen.
Und ich empfand auf einmal so etwas wie Sympathie für ihn. Mein neues Ziel: Ihn mal auf einen Kaffee einladen. Mit ihm sprechen. Warum? Weil ich glaube, dass uns als Kirche und mir ganz persönlich ein paar mehr Ecken und Kanten gut tun.
Und du? Was für Ecken und Kanten würdest du dir von der Kirche wünschen? Oder an welchen Ecken und Kanten stößt du dich noch bzw. wieder? Ich bin auf deine Meinung gespannt!
Zu diesem Beitrag möchte ich Dir eine lustige Geschichte erzählen, bei der ich auch dachte, das geht zu weit. In der Fuhle gab/gibt es ein Orionladen und irgendwann hat sich Regina davor gesetzt und laut aus dem Hohelied Salomos vorgelesen. Die Unternehmerin dachte, was ist das für eine Verrückte, kam heraus und fragte freundlich, ob sie irgendwie helfen könne. Daraus ergab sich ein Gespräch. Daraus ergab sich ein Gottesdienstbesuch. Daraus ergab sich eine enge Freundschaft und später Mitgliedschaft in der Gemeinde und die Aufgabe des Geschäftes/Pachtvertrages mit Orion. Ich bin mit dieser Frau in einem Hauskreis. Sie hängt richtig an Jesus.
Regina bezieht Kante gegen Pornographie, weil bei der Herstellung von Pornos zu 90% früher missbrauchte Frauen mitwirken, bei denen Grenzen und Schamgefühl so richtig beschädigt sind. So eine Kante kann sich die Landeskirche wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Ich finde sie richtig gut.
Hast Du den Kaffee inzwischen mit ihm getrunken? Wenn Ja, wie war es?
Nein, leider immer noch nicht 🙁